Herbert Reindell, Nestor der Freiburger Sportmedizin und maßgeblich an
ihrem Aufbau nach dem Zweiten Weltkrieg beteiligt, zögert noch.
Reindell, der mit seinen Forschungen über das Sportlerherz weltberühmt
wurde und sich nur ganz vereinzelt mit Doping beschäftigt hat, will
seine Freiburger Nachfolger Keul und Klümper bremsen. Vorsichtig erklärt
er: "Die Mediziner müssen zu einer Meinungsbildung in der Frage der
medikamentösen Förderung der Leistung des Hochleistungssportlers
kommen."
Doch die Verbandsärzte haben ihre Meinungsbildung längst vollzogen. Die
BZ zitiert Klümper am 25. Oktober, also am Tag nach dem Kongress, mit
folgenden Worten: "Wir werden allen Sportlern leistungsoptimierende
Hilfestellungen zuteil werden lassen, sofern sie das Doping-Reglement
nicht verletzen und den Athleten kein Schaden zugefügt wird." Und
weiter: "Die Arbeitsgemeinschaft hat sich also auch für Anabolika
ausgesprochen." Die Dosierung der Präparate müsse allerdings in der
Verantwortlichkeit der Ärzte liegen. In der Bild-Zeitung bestätigt
Klümper acht Tage später, man habe sich für die Freigabe der
Muskel-Pille entschieden, "um ihre Dosierung in den Griff zu bekommen.
Wenn uns das gelingt, kann mit Anabolika gar nichts passieren."
Klümper betreut Radfahrer, Leichtathleten, Wintersportler, Kunstturner, Handballer, Kanuten
Klümper wirkt 1976 nicht nur als Verbandsarzt des Bundes Deutscher
Radfahrer. Er betreut Leichtathleten, Schwerathleten, Wintersportler,
Kunstturner, Handballer, Kanuten – so gut wie alle Sportarten, die
medaillenträchtig sind bei Weltmeisterschaften und Olympischen Spielen
und bei denen die BRD im Kalten Krieg zwischen Ost und West Schritt
halten möchte. Auch deutsche Fußballer vertrauen sich immer öfter
Klümper an – vor allem bei Verletzungen. Der "Doc" mit dem Spitzbart
gilt als genialer Diagnostiker, und er setzt Anabolika bei Fußballern
vor allem ein, um die Genesung zu beschleunigen. Zeit ist Geld – das
gilt auch damals schon. Je schneller ein Fußballer auf den Platz
zurückkehren kann, desto besser.
Auch das Anabolikum Megagrisevit, das Klümper 1979 an den SC Freiburg
liefert, dient diesem Zweck. In den Akten der Staatsanwaltschaft
Freiburg, um die sich die Untersuchungskommission der Kriminologin
Letizia Paoli zweieinhalb Jahre lang bemüht hat und die seit drei Wochen
auch die BZ einsehen darf, geht es aber beileibe nicht nur um den SC
Freiburg, den VfB Stuttgart und den Freiburger FC. Die Akten belegen
Kontakte zu weiteren Klubs. In einem Dokument aus dem Jahr 1988 nennt
Klümper auch den "FC Bayern München, FC Nürnberg, Hamburger SV, St.
Pauli, Wattenscheid, Fortuna Düsseldorf" sowie den Karlsruher SC. Mit
den Fußballern dieser Klubs verbinde ihn ein "Vertrauensverhältnis", so
Klümper damals.
Wo geht es um die Steigerung der Leistung, wo um schnelle Hilfe bei
Verletzungen? Wie können die Ärzte die Anwendung der Medikamente
steuern, damit Athleten nicht in Konflikt mit dem Doping-Reglement
kommen? Dieses Reglement entwickelt sich erst in den 1970er Jahren. Der
ganze Weltsport ist ein einziges Tohuwabohu. So verbietet das
Internationale Olympische Komitee zwar 1974 den Gebrauch der Anabolika.
Gleichwohl werden sie nahezu flächendeckend eingesetzt. Keul und Klümper
entwickeln Pläne. Sie beraten Verbände und Athleten, wie Medikamente
rechtzeitig abzusetzen sind – damit die ersten Doping-Kontrollen jener
Zeit garantiert ins Leere laufen. Einige Verbände hinken auffällig
hinterher. Im deutschen Fußball etwa wird überhaupt erst seit 1988
kontrolliert, und das auch nur lax. Das ganze verbale Verwirrspiel, mit
dem Keul und Klümper später die Öffentlichkeit narren werden, geben sie
nur ein einziges Mal nachweislich auf – in jenem Schicksalsjahr 1976.
Doch ihre öffentlichen Forderungen haben ein verheerendes Echo. Sollen
Medikamente, die für Schwerkranke entwickelt worden sind, tatsächlich
Kerngesunden gespritzt werden? Dienen Krebspräparate dazu, den
Medaillenspiegel aufzupolieren?
Hinzu kommt, dass namhafte Experten schon seit langer Zeit vor dem
Missbrauch und den Nebenwirkungen vieler Präparate warnen. Adrian
Paulen, Präsident des Europäischen Leichtathletik-Verbands, erklärt
1974: "Diese Ärzte gehören weggesperrt. Ich halte es für unglaublich,
dass ein Arzt Medikamente zur Leistungssteigerung gibt, ohne zu wissen,
welche Auswirkung sie für die Zukunft haben werden." Der australische
Professor G.C. Farrell berichtet 1975 über "Lebertumore bei jungen
Männern, die androgene-anabole Steroide" genommen haben.
Schnell steht fest: Die "Praktische Toleranz" ist öffentlich nicht
vermittelbar. Die Debatte läuft aus dem Ruder. Die damaligen
Spitzenverbände des Sports müssen reagieren. Im Mai 1977 erklären der
Deutsche Sportbund und das Nationale Olympische Komitee feierlich, auf
den Einsatz von Medikamenten ab sofort und für alle Zeit verzichten zu
wollen. DSB und NOK beteuern: "Die Deutsche Sportbewegung lehnt jede
medizinisch-pharmakologische Leistungsbeeinflussung und technische
Manipulation am Athleten ab." Der Deutsche Sportärztebund schließt sich
der Erklärung flugs an.
"Die deutschen Sportmediziner wollen sich im Kampf gegen das Doping von
niemandem übertreffen lassen", berichtet die BZ am 7. Mai 1977 und
titelt: "Der Sportarzt macht nicht mehr mit."
Tatsächlich aber machen die Sportärzte genauso weiter wie bisher – nur
eben heimlich. Der Heidelberger Doping-Bekämpfer Werner Franke sagt
heute über jene Zeit: "Es war klar, dass man der Öffentlichkeit etwas
vorgeben musste, eine Theorie vom sauberen Sport." Fortan, so Franke,
habe der Grundsatz gegolten: "Wir Mediziner wissen zwar Bescheid, aber
wir dürfen nichts sagen."
Die BZ hat schon vor mehreren Jahren drei Teilnehmer des
sportmedizinischen Kongresses 1976 in Freiburg befragt. Alle bestätigten
die zeitgenössische Darstellung der Ereignisse in den Medien. Ein
Sportmediziner, der damals dabei war, stützte Werner Frankes These.
Doping sei öffentlich nicht vermittelbar gewesen. Fortan habe man in
Freiburg "eben heimlich weitergemacht".
Bekam Freiburg einen Staatsauftrag?
Die entscheidende Frage ist heute nicht mehr, ob im westdeutschen Sport
nach 1977 weitergedopt wurde. Das steht längst fest. Die Frage lautet
vielmehr, ob die Doping-Offensive der Freiburger Ärzte tatsächlich von
staatlichen Stellen und führenden Politikern gutgeheißen, offen
unterstützt oder wenigstens stillschweigend geduldet wurde. Hier besteht
noch erheblicher Forschungsbedarf. Handelten die Ärzte, wie es die Rede
von Ministerialrat Groß nahelegt, im Staatsauftrag? Die BZ hat auch
hierzu schon vor längerer Zeit Handelnde von einst befragt.
Ein Freiburger Spitzensportfunktionär des Jahres 1976 erklärte:
"Natürlich gab es einen Staatsauftrag an Freiburg. Es war genau das. Es
war die westdeutsche Politik, die sich gegen die ostdeutsche Übermacht
aufgerufen fühlte." Der Zeitzeuge wollte sich dabei nicht von eigener
Verantwortung freisprechen. Er sagte: "Auch ich bin mitschuldig. Wir
alle sind es. Jeder im deutschen Sport hat mitgemacht."
Ein Freiburger Spitzensportmediziner des Jahres 1976 beschrieb die
Ereignisse im Rückblick so: "Der Staat hat uns aufgefordert, nach allen
Medikamenten zu forschen, die geeignet sind zur Steigerung der Leistung.
Was wir erforschten, wurde später zu Doping. Der Deutsche Sportbund und
das Bundesinnenministerium waren letzten Endes unsere Auftraggeber. Die
Sportmedizin war immer höchstens Handlanger für Doping, sie hat doch
nicht die Aufträge erteilt. Es wird aber sehr schwierig werden, das
wirklich nachzuweisen."
Doc und Doping
60 Aktenordner aus einem Prozess gegen Armin Klümper belegen abermals:
Die Freiburger Sportmedizin hat systematisch gedopt. Die
Medikamenten-Offensive nahm ihren Weg in den 1970er Jahren. Anabolika
waren damals weltweit gebräuchlich. Die Freiburger Ärzte sollten das
Doping in der BRD überwachen.